Es ist viel passiert auf Irakliá.
Oder auch nicht.
Unsere Erwartungen waren nicht sehr hoch, einfach nur ein paar Tage ausspannen, sich auf der ruhigen Insel wohlfühlen, im Maistrali die Abende genießen. Das Wetter war nicht schlecht, als Anna
mit ihrer roten Mähne uns wie gewohnt am Hafen von der Scopelitis abholte, herzlich umarmte, als hätten wir uns erst gestern gesehen. Sie hatte ihre Rooms noch gut belegt, trotz Ende September
war bei ihr noch einiges los, und Anna hatte noch zusätzlich viel Arbeit in ihrem Supermarkt.
Aber sonst war alles so wie früher.
Oder auch nicht.
Natürlich wurde auch auf Irakliá inzwischen viel gebaut. Einige neue Rooms sind dazu gekommen, wie das "Aiolos" hoch über dem Hang beim Wasserspeicher. Es bietet sogar Pizzaservice bis an den
Livadi-Strand.
Auch die alten bewährten Rooms tun immer noch ihren Dienst, wie das Haus von Manolis, das jetzt "Sunset" heißt und am Ortsende am Hang hinter der Melissa liegt. Wir mussten immer schmunzeln, wenn
die Neuankömmlinge das Haus suchten und es beschrieben als "Weißes Haus am Hang mit blauen Fenstern", als ob es davon nur eines gäbe.
Die Zeit Ende September hat ihren besonderen Reiz: Die Saison ist fast vorüber, die Griechen haben ihr Geld in der Tasche, sind noch etwas gelassener als sonst. Dies ist die Zeit der Ernte. Der Wein ist schon lange reif, Oliven noch nicht ganz, aber die Granatäpfel sind prallrot.
Unsere erste Wanderung sollte uns zum kleinen Kiesstrand Turkopígado von Panagia aus führen, und wir staunten nicht schlecht, als wir sahen, dass der Weg dorthin zu einer breiten Straße ausgebaut war, die letzten Arbeiten waren voll im Gange, wir liefen über den Rollsplit hinunter. Schön zu wandern war es nicht. Wenigstens hatten die albanischen Bauarbeiter die Straßenrandbefestigungen sehr schön mit Natursteinen gegen den Hang gesichert.
Aus welchem Grund die EU hier Geld in eine Straße zu einer einsamen Bucht auf einer abgelegenen Insel steckt, das wissen nur die Götter, zumal es auf Iraklia sicherlich sinnvollere Projekte gibt,
die eine Unterstützung verdient hätten, wie zum Beispiel die lang ersehnte Kanalisation mit einem modernen Klärwerk. Denn die Bevölkerung auf den kleinen Ostkykladen sitzt auf ihren Sickergruben
quasi wortwörtlich auf einer Zeitbombe. Immer häufiger läuft eine nach der anderen über und das Geschrei und der Gestank ist groß.
Also auf zu neuen Taten.
Wenigstens der Weg zur Tropfsteinhöhle des heiligen Johannes konnte noch nicht asphaltiert sein. Aber auch hier hat sich seit unserem letzten Besuch einiges geändert. Die Wanderwege sind jetzt
gut markiert, wir gehen von Ag. Georgios an der Melissa vorbei auf dem Weg Nr. 7 in die Landschaft. Schon nach einigen Metern duftet es wie gewohnt nach Thymian, der Blick wird weit, nach Paros
und Naxos hinüber, der Sinn wird klar und wir sind schwungartig in diesem Griechenland, das wir so lieben – im Zauber der griechischen Landschaft, wie Nikos Kazantzakis es so schön beschreibt.
Wir müssen hinauf auf den Bergsattel.
Achtung: jetzt nicht den irreführenden Wegweisern folgen, die uns auf Weg Nr. 7 links ab nach Panagia und von dort zur Höhle schicken wollen! Das wäre ein großer Umweg. Lieber geradeaus weiter
über Agios Athanasios (von den drei Häusern scheint nur noch eines bewohnt) hoch auf den Bergrücken, dort kommt von links der Weg von Panagia herüber, wir halten uns weiter geradeaus und gehen
den Weg – jetzt mit Nr. 3 bezeichnet - den Berg auf der anderen Seite wieder hinunter zur Höhle, die am Ende er Bucht von Alimiá liegt.
In dieser Bucht liegt unter Wasser – seit dem Zweiten Weltkrieg – das Flugzeugwrack eines Seeaufklärers, dessen Propeller in einer abenteuerlichen Aktion vor etlichen Jahren per Ausflugsboot beborgen wurde. Aus einer Laune heraus beschloss man damals, den Propeller mit vereinten Kräften auf das kleine Boot zu hieven (und glaubt mir, das Ding sieht verdammt schwer aus, die drei Propellerflügel sind nicht aus Holz, sondern aus Metall!) Da das Boot jetzt mit dem Propeller völlig überladen war, musste die Badegesellschaft natürlich in ihren Badelatschen zu Fuß zurück nach Agios Georgios, was allein mit festen Schuhen schon eine ordentliche zwei- bis dreistündige Wanderung ist. Vasili und Giorgos, die damals dabei waren, erzählen uns die Geschichte und zeigen uns das Museumsstück, das jetzt in Giorgos Garten der Villa Glafkos liegt. Ein Zeitungsbericht über den Flugzeugabsturz hängt an der Wand im Perigiali-Supermarkt von Anna.
Nun aber weiter zur Höhle:
Der Weg ist gut ausgebaut, die schwierigsten Stellen wurden inzwischen befestigt und teilweise mit Randmauern versehen. Nur das alte Hinweisschild direkt vor der Höhle übersieht man leicht. In
der Höhle, in der einmal im Jahr das Fest des heiligen Johannes gefeiert wird, hat sich nicht viel geändert. Am Eingang hat irgendjemand eine Art Ariadnefaden installiert, eine aufgewickelte
Leine.
Auch ganz Ängstliche können so den Weg ins Innere der Höhle wagen. Kurz die Glocke am Eingang geläutet, ein paar mitgebrachte Kerzen auf dem Altar angezündet, und nach einiger Zeit haben wir uns
an die Dunkelheit gewöhnt. Eine kleine Rast, kurz noch einen Apfel gegessen, und dann geht es über den fast ausgestorben wirkenden Ort Panagia in ca. zweieinhalb Stunden wieder zurück nach Ag.
Georgios.
Da weiß man am Abend, was man getan hat! Und die Belohnung durch einen gemütlichen Abend bei Niko im "Maistrali" ist gesichert. Die Katzen machen Männchen, Vasili zeigt uns seine Naxos-Augen, die
er in den letzten zwei Wochen hier auf Iraklia gefunden hat.
Das Essen ist gut und günstig, wir schwelgen in Erinnerungen alter Zeiten, die vom alten Schiffskoch Dimitri und Kapitän Manolis geprägt sind, wie wir damals im "O Pefkos" unter der Kiefer die Nächte durchgesoffen hatten, zum Pinkeln in den Garten des Nachbarn gingen, weil wir in der Dunkelheit das Klo und schon gar nicht den Lichtschalter hinter dem Haus gefunden hatten. Dimitris Hund Thomás schaute uns von seinem Stammplatz auf dem Baum nur ungläubig zu. Waren das Zeiten! Vasili, ein alter Manolis-Freund erinnert sich gut. Die Zeiten ändern sich, die jungen Frauen wandern ab, die verbliebenen Burschen spielen die Angeber und buhlen um die letzten weiblichen Wesen, fahren mit ihrem Alfa Romeo oder Moped die Dorfstraße auf und ab. Die neuen Lehrerinnen sind da willkommen. Umso größer die Enttäuschung, wenn diese ihre Lover bereits im Schlepptau mitbringen. Die Alten sterben auf Iraklia langsam aus, und auch unser Dimitrios, der alte Schiffskoch mit seinem Restaurant "O Pefkos" ist im Juli 2006 verstorben, im Juni 06 hatten wir ihn noch in der Melissa gesehen. Sein Grab auf dem kleinen Friedhof über der Bucht haben wir besucht, im nächsten Jahr sollen die Gebeine in das Beinhaus übertragen werden.
Wir saßen oft zusammen im Kafenion Melissa, das auch heute noch nichts von seinem Charme verloren hat, tranken Kakao oder Portokalada, die immer freundliche Georgía strahlte eine wunderbare Ruhe aus, und allein deswegen ist Iraklia auch heute noch die Reise wert.
Trotzdem werde ich den Eindruck nicht los, dass das intakte Dorfleben auf Irakliá bröckelt, das Tourismusgeschäft gewinnt die Oberhand.
Ja, es ist viel passiert auf Irakliá.
Oder auch nicht. Aber wen interessiert das schon?
Wir jedenfalls werden wiederkommen.