Es war Liebe auf den ersten Blick. Jedenfalls von meiner Seite aus. Ich sah sie zum ersten Mal im Flur des Hotels Attalos in Athen, es roch dort wie immer nach Herrensocken und Fußschweiß und dem
ganz bestimmten griechischen Hotelmief. Die beiden Aufzüge, die normalerweise wackeln wenn man sie nur betritt, und bei denen man denkt, sie hängen lediglich an Gummibändern, waren Gott sein Dank
außer Betrieb. So nahm ich die Treppe – und da sah ich sie, aufgereiht neben anderen Schönheiten an der Wand des Flures.
Erst dachte ich, es handele sich um einen Fehler, denn ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass all diese Menschen, die mit mir im Airport von Athen gelandet waren, irgendwo anders hinwollten
als auf die Kykladen.
Es geht um die Insel Skyros. Genauer gesagt um ein Poster mit einem Superfoto von Skyros-Stadt. Bislang kannte ich nur die Kykladen, und daher meinte ich, es müsse unbedingt Syros heißen, das "k"
war zuviel. Weiße Häuser schlängeln sich den Berg hinauf und zeigen dieses unverwechselbare Kykladenpanorama. Erst später bemerkte ich, dass Skyros ganz woanders liegt und eigentlich nichts mit
den Kykladen zu tun hat – sondern mit den Nördlichen Sporaden. Bei vielen meiner Athen-Aufenthalte sah ich sie wieder, sie verließ ihren Platz nie, auch nicht nach der überflüssigen Renovierung
des Hotels zu den Olympischen Spielen. Jedoch zog es mich immer wieder auf die Kykladen. Bis jetzt – dieses Jahr muss ich sie einfach sehen – live und in Farbe. Endlich ist es so weit. Jetzt bin
ich unterwegs zu ihr!
Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Jede auch noch so große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt“. Bei mir beginnt sie mit einem kleinen Dreh. Es ist der Dreh des Schlüssels in meiner Haustür. Danach bin ich weg, für eine Weile. Die Fahrt mit dem Taxi um 4:30 Uhr zum Flughafen, das nervöse Warten, ob der Flieger auch wirklich pünktlich ist, der knapp dreistündige Flug – all das ist nicht wirklich Reisen. Es ist eher ein transportiert werden, ich fühle mich wie Stückgut.
Ganz angenehm, wenn man dann auf dem Flug einen netten Sitznachbarn hat, mit dem man ein wenig plaudert, und der sich als Mitarbeiter der Fluggesellschaft herausstellt: „Eigentlich sitze ich
vorne links!“ Aha, also ein Flugkapitän vermute ich. Mit seiner Jeans und der alten Lederjacke sieht er eher aus wie ein Taxifahrer. „Ja, ja, Captain“ nickt er verlegen und flirtet mit seiner
Kollegin, der Flugbegleiterin, die vor unseren Sitzen die Sicherheitsmaßnahmen vorführt und der er die Sauerstoffmaske versteckt, um sie zu necken. "Mitte bis Ende Mai ist die schönste Zeit für
die Kykladen, dann ist die Luft noch klar und aus dem Cockpit liegt einem die Ägäis zu Füßen, so messerscharf wie die Landkarten bei Google-Earth. Aber genau an diesen Tagen hab ich natürlich
meine Kamera nicht dabei!" Wohin es denn ginge? Frage ich ihn. „Andíparos“ sagt er, mit weichem "d" und Betonung auf dem "í", per Blue Star. „Ich hab dort ein Häuschen von meinen Großeltern
geerbt, ich muss da mal ein bißchen was im Garten machen, umgraben und so, in vier Tagen geht es zurück.“ Also griechische Wurzeln, hätte ich nicht vermutet, er spricht perfekt Deutsch und ich
vermute auch Griechisch. Interessant, schon oft sind wir mit Germanwings geflogen, und haben uns gefreut, wenn der Flugkapitän Jannis Kalivós plötzlich seine Erklärungen auch in Griechisch abgab,
das macht nicht jeder und es stimmte uns wunderbar auf den Urlaub ein. Ja, er sei der einzige unter den Flugkapitänen bei Germanwings, der Griechisch spricht. „Na bitte“, sag ich: „dann haben Sie
uns schon ein paar Mal sicher und unterhaltsam nach Athen geflogen“.
Das schmeichelt ihm und er entschwindet zu den Flugbegleitern, um dort eine extra Portion Kaffe für sich abzustauben. Dass wir ihn nach vier Wochen noch einmal auf dem Rückflug treffen sollten,
hätte ich jetzt noch nicht gedacht.
Pünktlich landet der Flieger in Athen, und wir verlassen uns voll auf Edy aus dem in-greece.de Forum, der uns mit Informationen zur Anreise nach Skyros versorgthat. Vorsorglich fotografiere ich
noch den Fahrplan des X93 Expressbusses, der uns zum Busbahnhof Liosion bringen soll, Fahrtzeit knapp eine Stunde. Und richtig, wie vermutet werden die einzelnen Stationen nicht angesagt. Anhand
meines Fotos auf der kleinen Digicam verfolge ich die Stationen, an der siebten müssen wir raus. Hätten wir glatt übersehen. Auch die Haltestelle „Lision Intercity Bus Station“ ist unspektakulär,
und der Hinweis von Edy:
„Bei der Werkstatt links die Straße rein“ war goldrichtig, hier liegt der Busbahnhof etwas versteckt.
Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie erinnert er mich an einen alten Transitbahnhof aus der DDR, karge Schalterhalle, gekachelte Wartehalle, uralte Abfahrtstafeln als Fahrpläne in Holz und Pappe geschnitzt. Die Tickets für den Bus nach Kymi, von wo die Fähre nach Skyros ablegen soll, erhalten wir für 13,50 Eur am Schalter nach „HALKIDA“.
Gut dreieinhalb Stunden Wartezeit liegen vor unserer dreistündigen Busfahrt, na ja, das hab ich ja gewusst. So vertreiben wir uns die Zeit mit Dösen und dem Beobachten der Wartenden. Es ist vor
allem die Landbevölkerung von Evia, die auf Busse zurück auf die Insel oder nach Larissa wartet. Viele ältere Menschen haben offensichtlich einen Ausflug nach Athen unternommen, Behördengänge
gemacht, eingekauft. Schon bald fällt uns ein Schwarzer auf, der mit seinem Korb die Wartenden anspricht und versucht, seine Sonnenbrillen und Armbanduhren and den Mann oder die Frau zu bringen.
Das kennen wir sonst nur aus der Plaka.
Da gibt’s nur eins: „Ochi!" Und ich denke mal wieder, was für eine aussichtslose und armselige Existenzgrundlage dieser Mann doch hat, trotz seines improvisierten Verkaufstandes mitten im
Warteraum. Seine Augen sind wach, jeder Neuankömmling wird beachtet. Offensichtlich hat er mehr zu bieten als Sonnenbrillen und Uhren. Ein paar Gastarbeitern, offensichtlich keine Griechen (sie
sprechen jedenfalls nicht Griechisch), bietet er Schutzumschläge für Reisepässe an, gestylt als griechische Pässe. So könnten sie ihre bulgarischen oder albanischen Ausweise als griechische
tarnen. Interessant. Sie greifen nach einigem Überlegen zu.
Die Griechen begegnen dem Verkäufer unerwartet freundlich, manche grüßen ihn per Handschlag, klopfen ihm auf die Schulter, kennen ihn. Eine ältere Dame probiert plötzlich eine Brille aus, eine
Lesebrille. Sie prüft sie sofort und ist begeistert, dass sie auf einmal wieder Zeitung lesen kann. 10 Euro, das geht. Da ziehen andere mit. Lesebrillen, wo gibt es die schon auf Skyros oder auf
dem Lande? Und in die feinen Optikergeschäfte in Athen hätte man sich sowieso nicht getraut.
Des guten Gewissens zuliebe wird daher dem daheim gebliebenen Gatten noch eine schicke Armbanduhr mitgebracht, ebenfalls 10 Euro. Ausgleich muss sein. Auch die modernen fliegenaugenartigen
Sonnenbrillen, die das halbe Gesicht verdecken, finden ihren Absatz, hauptsächlich von Älteren, die das Sonnenlichtnicht mehr so vertragen und kompletten Gesichtschutz benötigen. Es ist ein
bunter Gemischtwarenladen, den der Schwarze betreibt, und ich will gar nicht wissen, was er sonst noch in seinen Plastiktüten verbirgt. Sehe nur zufällig, dass er heimlich einem älteren Mann ein
paar Pillen überreicht, keine Ahnung was das ist, der Alte ist jedenfalls happy und steckt sie schnell in die Hosentasche. Offensichtlich ist der schwarze Verkäufer wohl zu einer Institution auf
dem Liosion Busbahnhof geworden, eine wichtige Einkaufsmöglichkeit der reisenden Landbevölkerung.
So vergeht die Wartezeit relativ amüsant, und unser moderner Reisebusnach Skyros (Kymi), der auf der Anzeigetafel gar nicht existiert, wird beladen. Kisten, Kartons, Taschen, Koffer – eine Verladung wie bei den kleinen Fähren auf die Ostkykladen ist hier offenbar üblich. Klar: alle Einkäufe aus Athen müssen verstaut werden. Pünktlich geht es los, der Bus ist fast voll, die Klimaanlage bläst wie Sau. Drei Stunden Fahrt, mal sehen, ob das ohne Pinkeln geht, denn eine Toilette ist nicht an Bord. Den Ticketkauf am Schalter hätten wir uns sparen können, denn der gewandte etwas korpulente Busschaffner macht die Runde und verkauft die Tickets auch während der Fahrt. Das ist bei der Gurkerei durch die Kurven nicht ganz leicht, und so rutscht ihm seine Hose fast bis in die Kniekehlen. Sein strammes Klempnerdekolletee wird sichtbar, er merkt es gar nicht und die Fahrgäste hinter ihm lachen sich halbschlapp. Na ja, mir ist es ein Foto wert.
Die Fahrt geht über die Brücke von Chalkida nach Evia, durch Dörfer und Landschaften, der Bus überquert die gesamte Insel. Eine Haltestelle gibt es nur in Chalkida, ansonsten lässt der Busfahrer
einzelne Reisende verteilt in ihren kleinen Dörfern aussteigen. Welch ein Service! Pinkelpause brauchen wir nicht. Wir erreichen die andere Seite der Insel und wundern uns, wie nah hier an der
Küste die Fischfarmen liegen, eine große Anzahl, vermutlich für Doraden und Wolfsbarsche, die wir in deutschen Großmärkten kaufen können.
Bald schon sehen wir unser Schiff, die Achilleas liegt schon bereit im Hafen von Kymi, der nicht sehr idyllisch wirkt. Die Mole wird aufgerissen, Bauarbeiten.
Die Fähre ist größer und neuer als gedacht, überraschender Weise ein schönes Schiff, das wohl erst neulich renoviert wurde. Es gibt sogar einen Treppenlift für Gehbehinderte und einen gemütlichen Aufenthaltsraum, in dem wir viele Gesichter aus Liosion wieder sehen. Gut neunzig Minuten dauert die Fahrt, sie kostet nur neun Euro. Der Himmel zieht sich zu, etwas Weltuntergangsstimmung macht sich breit, die vielen Unterhaltungsangebote von Skyros, die im Schaukasten neugierig machen, helfen da auch nicht.
Doch bald nähern wir uns Skyros, die Kirche Ágios Nikolaos vom Hafenort Linaríra kommt in Sicht, vom Café Kávos ertönt das schon erwartete Musikstück „Also sprach Zarathustra“ – eher peinlich als
komisch.
Die gesamte Mole ist auch hier eine Baustelle, als hätte ich es geahnt, nicht sehr gemütlich, nicht unser Ort für eine Unterkunft. Touristen sitzen auf ihren Balkonlogen und beäugen neugierig die
Neuankömmlinge, das übliche Gewusel bei der Fährankunft beginnt. Mir sind generell diese kleinen Hafenorte zu laut und ungemütlich, wenn LKWs die Straßen verstopfen oder die Schiffe nachtsüber
ihre Maschinen laufen lassen oder in der Früh ablegen. Ich vermute, eine wirklich ruhige Unterkunft gibt es hier nicht. Wir werden Linariá sicher noch besuchen, packen aber erstmal unsere Sachen
und fahren nach Magaziá, es wird dunkel, wir sind bald am Ziel.